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Was bedeutet eigentlich "Bindungsorientiert"?
Bindungsorientierte Begleitung bezeichnet einen Erziehungsansatz, der die enge emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind in den Mittelpunkt stellt. Im Kern geht es darum, Säuglinge und Kleinkinder so zu begleiten, dass ein Gefühl von Sicherheit, Vertrauen und Geborgenheit entsteht. Diese Herangehensweise fußt auf der wissenschaftlich fundierten Bindungstheorie nach John Bowlby, welche besagt, dass ein Kind im ersten Lebensjahr – geleitet durch ein angeborenes Verhaltensprogramm – eine intensive emotionale Bindung zu einer primären Bezugsperson aufbaut. Häufig ist dies die Mutter, doch es kann ebenso der Vater oder eine andere konstante Betreuungsperson sein. Die Bezugsperson fungiert als „sichere Basis“ (secure base), von der aus das Kind die Welt erkundet und zu der es in Momenten von Unsicherheit oder Stress zurückkehren kann. Entscheidend ist dabei, dass diese primäre Bindungsperson insbesondere in den ersten Lebensjahren verlässlich verfügbar ist – physisch wie emotional –, bis das Kind ein inneres Gefühl von Sicherheit entwickelt hat.
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Die Bedeutung von Bindungsorientierung für meine praktische Arbeit
Auf Grundlage untenstehender wissenschaftlicher Erkenntnisse lautet das Motto meiner Arbeit: „Back to the roots“. Babys müssen sich in unserer heutigen Gesellschaft an viele Bedingungen anpassen, die nicht ihrer menschlichen Natur entsprechen. Erstaunlicherweise gelingt ihnen diese Anpassung oft, doch wir wissen aus Forschung und Praxis, dass eine bindungsorientierte Begleitung für ihre Entwicklung besonders förderlich ist.
Wenn wir einen Schritt zurücktreten und uns fragen, was die Natur für diesen Moment vorgesehen hat, finden wir meist eine gute Antwort darauf, wie wir mit einem Baby umgehen sollten. Ziel meiner Arbeit ist es, Eltern zu helfen, dieses Gefühl wiederzuentdecken – einen natürlichen, intuitiven Umgang mit ihrem Kind zu leben, so wie er in freier Natur entstehen würde.
Kurz gesagt: "Würde das, was ich vorhabe, eine Affenmama tun?"
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Grundlagen: Bindungstheorie nach Bowlby
Die Bindungstheorie wurde Mitte des 20. Jahrhunderts vom britischen Kinderpsychiater John Bowlby begründet und seither durch zahlreiche Studien untermauert und erweitert. Zentrale Erkenntnis dieser Theorie ist, dass der Mensch ein angeborenes Bedürfnis hat, enge und gefühlsintensive Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen. Insbesondere in Gefahrensituationen oder bei Unbehagen suchen Babys instinktiv Schutz und Nähe bei ihrer Bezugsperson – ein Verhaltensmechanismus, der evolutionsbiologisch dem Überleben dient. Er prägte den Begriff der Bindung („Attachment“) für dieses emotional getragene Band zwischen Kind und Bezugsperson. Bindung entsteht jedoch nicht auf einen Schlag, sondern entwickelt sich im Laufe der Zeit durch wiederholte positive Interaktionen. Bereits unmittelbar nach der Geburt legen erste Begegnungen – Blickkontakt, Hautkontakt, einfühlsames Reagieren – den Grundstein für den Bindungsaufbau. Die berühmte Aussage Bowlbys, Bindung sei ein „sicherer Hafen“ (safe haven) für das Kind, verdeutlicht die Schutzfunktion: Aus einer sicheren Bindung heraus wagt das Kind, seine Umgebung zu erkunden, da es weiß, dass es bei Bedarf jederzeit zurückkehren und Trost finden kann. Auf dieser Grundlage entwickeln Babys im ersten Lebensjahr ein grundlegendes Vertrauen in ihre Bezugsperson und in die Welt. In der Entwicklungspsychologie wird dieses Urvertrauen genannt – ein tief verankertes Gefühl von Sicherheit, das das Kind später durchs Leben trägt. Eine sichere Bindung gilt somit als Fundament für ein gesundes Aufwachsen und eine stabile psychische Entwicklung.
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Feinfühligkeit nach Mary Ainsworth: Schlüssel zur sicheren Bindung
Wie aber lässt sich eine sichere Bindung fördern? Die kanadische Psychologin Mary Ainsworth, eine enge Mitarbeiterin Bowlbys, entdeckte in ihren Forschungen den zentralen Einfluss elterlicher Feinfühligkeit. Feinfühligkeit beschreibt die Fähigkeit der Eltern – insbesondere der Mutter in Ainsworths ursprünglicher Definition – die Signale des Säuglings wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt sowie angemessen darauf zu reagieren. Ein klassisches Beispiel: Ein Baby weint – ein feinfühliger Elternteil nimmt dieses Weinen nicht als „nervig“ oder bedeutungslos wahr, sondern erkennt dahinter ein Bedürfnis (etwa Hunger, Müdigkeit, Nähe) und versucht einfühlsam und zügig, dieses Bedürfnis zu erfüllen. Ainsworth konnte zeigen, dass Feinfühligkeit eine Voraussetzung für den Aufbau einer sicheren Bindung ist. Babys, deren Eltern im Alltag überwiegend liebevoll, konsistent und berechenbar auf ihre Bedürfnisse eingehen, entwickeln mit höherer Wahrscheinlichkeit eine sichere Bindungsqualität. Entscheidend für Eltern ist die Erkenntnis, dass liebevolle Responsivität – also verlässlich auf die kindlichen Kommunikationsversuche einzugehen – kein „Verwöhnen“ darstellt, sondern dem Kind signalisiert: „Du bist in Sicherheit, deine Bedürfnisse werden gesehen.“ Diese Botschaft bildet den Kern einer bindungsorientierten Begleitung.
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Die Eltern-Kind-Bindung im ersten Lebensjahr
Gerade im ersten Lebensjahr durchläuft die Bindungsbeziehung zwischen Baby und Hauptbezugsperson eine besonders prägende Phase. In diesen ersten Monaten ist ein Säugling vollkommen auf seine Eltern angewiesen – Nahrung, Wärme, Schutz und Zuwendung können nur von außen kommen. Durch körperliche Nähe (Tragen, Kuscheln, häufigen Hautkontakt) und schnelles Beruhigen bei Kummer erfährt das Baby, dass es der Welt nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern sich auf jemanden verlassen kann. Diese Erfahrungen formen das bereits erwähnte Urvertrauen des Kindes. John Bowlby betonte, dass ein Kind ab Geburt beständig nach der Nähe einer vertrauten Person sucht und bei Bedrohung Angst zeigt, sobald diese Bindungsperson nicht erreichbar ist. Deshalb ist es für die Kleinsten elementar, dass die Mutter (oder eine andere Bindungsperson) gerade in dieser sensiblen Zeit verlässlich verfügbar ist. Praktisch bedeutet dies: Ein Baby kann noch nicht „verwöhnt“ werden, indem man es viel hält oder tröstet – im Gegenteil, es lernt dadurch Schritt für Schritt, dass seine Welt sicher und berechenbar ist. Viele Eltern erleben in dieser Phase intuitiv, wie eng sie mit ihrem Kind verbunden sind: Das Baby sucht Blickkontakt, lauscht der Stimme der Mutter, klammert sich mit den Händchen fest – all dies sind angeborene Verhaltensweisen, um Bindung herzustellen. Die Eltern wiederum reagieren meist instinktiv mit „intuitivem Elternverhalten“, etwa sanfter Stimme, überzeichneter Mimik und dem Impuls, sofort zu helfen, wenn das Baby weint. Dieses fein abgestimmte Zusammenspiel – das Baby sendet Signale, die Eltern antworten darauf – lässt nach und nach eine belastbare Bindung entstehen. Studien zeigen, dass sich im Laufe des ersten Lebensjahres klare Präferenzen des Kindes für seine Hauptbezugsperson(en) entwickeln. Gegen Ende des ersten Jahres (ca. 8–12 Monate) tritt häufig eine Fremdelphase auf, in der das Baby bei unbekannten Personen ängstlich reagiert und noch stärker die Nähe der Eltern sucht – ein Zeichen dafür, dass die Bindung inzwischen gefestigt ist. Durch einfühlsame Begleitung in dieser Zeit (z.B. das Baby bei Unsicherheit nicht drängen, sondern Geborgenheit vermitteln) können Eltern ihrem Kind helfen, diese Phase zu meistern. Insgesamt gilt: In den ersten 12–18 Lebensmonaten wird der Grundstein für die Qualität der Eltern-Kind-Bindung gelegt. Das bedeutet nicht, dass spätere Korrekturen unmöglich wären, aber ein sicher gebundenes Kleinkind startet mit einem deutlichen Entwicklungsplus ins Leben.
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Langfristige Auswirkungen früher Bindungserfahrungen
Warum legen Fachleute so viel Wert auf eine bindungsorientierte Begleitung in den ersten Lebensjahren? Weil sich frühe Bindungserfahrungen nachweislich auf die langfristige Entwicklung eines Menschen auswirken. Eine Fülle von Längsschnittstudien – darunter die Arbeiten von Klaus und Karin Grossmann in Deutschland oder die umfangreiche US-amerikanische NICHD-Studie – belegen, dass die Qualität der ersten Bindungen einen nachhaltigen Einfluss auf die psychische und soziale Entwicklung hat. Sicher gebundene Kinder haben klare Vorteile: Sie sind oft ausgeglichener, können besser mit Stress umgehen und verfügen über eine höhere soziale Kompetenz im Umgang mit Gleichaltrigen. So zeigen sie beispielsweise im Kindergartenalter häufiger gutes Sozialverhalten, sind kontaktfreudiger und können Konflikte besser bewältigen als unsicher gebundene Gleichaltrige. Auch entwickeln sicher gebundene Kinder langfristig ein besseres Fähigkeit zur Emotionsregulation – sie lernen mit der Zeit, ihre Gefühle zu steuern, weil sie in der frühen Kindheit erfahren haben, dass ihre Emotionen von den Eltern aufgefangen und beruhigt werden. Diese innere Resilienz hilft ihnen später, Herausforderungen konstruktiver und selbstbewusster zu meistern. Nicht zuletzt trägt eine sichere Bindung dazu bei, dass ein Kind Selbstvertrauen und Explorationsfreude entwickelt: Es traut sich eher, Neues auszuprobieren, und passt sich leichter an Veränderungen an, weil die verinnerlichte Gewissheit („Ich bin geliebt und nicht allein“) wie ein emotionales Sicherheitsnetz wirkt. Im Gegensatz dazu können unsichere oder gestörte Bindungen mit negativen Folgen einhergehen. Wenn ein Kleinkind die Erfahrung macht, dass seine Bedürfnisse häufig unbeantwortet bleiben oder die Bezugsperson unberechenbar reagiert, bildet es oft ein geringeres Grundvertrauen aus. Dies kann zu Ängstlichkeit, Aggressivität oder Schwierigkeiten in späteren Beziehungen beitragen. Studien zeigen, dass dauerhafter emotionaler Stress in der frühen Eltern-Kind-Beziehung – etwa durch elterliche Überforderung, psychische Erkrankungen oder eigene Misshandlungserfahrungen der Eltern – die Wahrscheinlichkeit für eine unsichere Bindung erhöht, was wiederum mit negativen Entwicklungsauswirkungen einhergehen kann. Das heißt keineswegs, dass ein Kind mit unsicherer Bindung „verurteilt“ ist – die weitere Umwelt, förderliche Beziehungen zu Großeltern, Geschwistern oder Erziehern und unterstützende Erfahrungen können viel auffangen. Dennoch wird eine sichere Eltern-Kind-Bindung von Entwicklungspsychologen als ein zentraler Schutzfaktor für die seelische Gesundheit betrachtet.
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Bindungsorientierte Begleitung in der Praxis und ihre Bedeutung
Unter bindungsorientierter Begleitung verstehen Fachleute heute keinen starren Regelkatalog, sondern eine Grundhaltung in der Elternschaft. Sie zielt darauf ab, die Beziehung zum Kind so zu gestalten, dass sie von Wärme, Verlässlichkeit und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Im Familienalltag bedeutet das beispielsweise: Ein Neugeborenes wird nach Möglichkeit durch viel Körperkontakt (Tragen, gemeinsames Kuscheln) beruhigt; ein Baby wird nach Bedarf gefüttert (z.B. Stillen auf Abruf) und getröstet, wenn es weint, anstatt es kontrolliert schreien zu lassen. Eltern versuchen, die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen – sei es nach Nähe, Ruhe, Anregung oder Nahrung – und angemessen darauf einzugehen. Theorien wie die von William Sears, der in den 1980er-Jahren den Begriff Attachment Parenting prägte, empfehlen konkrete Praktiken (z.B. viel Hautkontakt direkt nach der Geburt, nächtliches Co-Sleeping im Elternbett, promptes Reagieren auf Schreien). Doch wichtig ist: Bindungsorientierte Begleitung schreibt Eltern nicht vor, wie genau sie ihr Familienleben gestalten müssen. Es geht nicht darum, in jeder Situation perfekt zu sein oder dogmatisch alle „Regeln“ zu erfüllen. Vielmehr steht der Beziehungsaspekt im Vordergrund: Eltern sollen ihr Kind als eigenständigen Menschen mit echten Gefühlen und Bedürfnissen wahrnehmen und wertschätzend behandeln. Gleichzeitig darf auch auf die eigenen Grenzen und Bedürfnisse geachtet werden – eine gesunde Bindung besteht nicht darin, dass Eltern sich völlig aufopfern, sondern darin, dass Balance herrscht (z.B. Pausen für die Eltern, Unterstützung durch Partner oder Familie suchen, wenn nötig). Bindungsorientierte Begleitung ist somit weit mehr als ein Erziehungstrend – sie ist ein entwicklungspsychologisch begründetes Konzept, das Eltern und Kindern einen sicheren Start ins gemeinsame Leben ermöglicht.
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Quellen: John Bowlby, Mary Ainsworth, Klaus Grossmann & Karin Grossmann, diverse Längsschnittstudien zur frühkindlichen Entwicklung

